Sowohl in unseren privaten wie auch in unseren beruflichen Lebenszusammenhängen sind wir beständig in Verhandlungsprozesse eingebunden. Dabei steht bei den meisten von uns die formelle Ebene im Vordergrund der Wahrnehmung unseres Verhandlungsverhaltens: Wir denken dabei etwa an Verhandlungen über Einstellungsbedingungen für die Besetzung von Arbeitsstellen mit Personalverantwortlichen, über die Gestaltung und Umsetzung von Projekten mit Projektpartner/inne/n oder über die Inhalte von Verträgen mit Lieferant/inn/en.
“Like it or not, you are a negotiator … Everyone negotiates something every day,” schreiben Roger Fisher, William Ury, und Bruce Patton in ihrem wegweisenden Buch über Verhandlungen Getting to Yes: Negotiating Agreement Without Giving In.
In ihrem Lehrbuch The Mind and Heart of the Negotiator definiert Leigh Thompson Verhandlungen als interpersonelle Entscheidungsprozesse. Sie seien notwendig, wenn Menschen ihre Ziele nicht im Alleingang erreichen könnten.
Verhandlungen seien hier verstanden als dynamische Interaktionsprozesse, in denen Individuen und / oder Kollektive mit (teils) divergierenden Interessenlagen und / oder Bedürfnissen in vielfältigen Lebens- und Arbeitsbereichen Modi der Kooperation und sozialer Beziehungen allgemein, Wissenshierarchien, Definitionskriterien und Deutungshoheiten, Aufgaben- und Verantwortungsverteilungen, Koordinationsformen und Abstimmungsmechanismen, die Verteilung von Rechten und Ressourcen, Zieldefinitionen etc. ausarbeiten und umsetzen. An Verhandlungen sind folglich mindestens zwei Interessenvertreter/innen beteiligt, und Ziel ist die Herstellung von Ausgleich, Kompromiss, Einigung. Ob eine Einigung erzielt werden kann und inwiefern die Inhalte des Ausgleichs für die Einzelnen am Ende befriedigend sind, ist u.a. abhängig von den angewandten Verhandlungstechniken und Unterschieden bzgl. der Kontrolle formeller wie informeller Ressourcen durch die Verhandlungsparteien.
Deutlich wird: Wir verhandeln, wenn wir zur Durchsetzung eigener Interessen auf die Herstellung von Interessenausgleichen mit anderen angewiesen sind. Aushandlungsprozesse entstehen ergo aus zeitlich begrenzten oder unbegrenzten, freiwilligen oder unfreiwilligen Abhängigkeitsverhältnissen. Verhandlungen verlangen folglich Gegenseitigkeit und beinhalten als zentrale Facette eine wie auch immer geartete Verbundenheit.
Formelle Verhandlungen unterliegen festgelegten, den Verhandlungspartner/innen bekannten Rahmenbedingungen, Regeln und Vorgaben. Informelle Verhandlungen, welche wir in zahlreichen, oftmals aus ungeplanter Handlungserfordernis in alltäglichen Berufs- und Lebenskontexten entstehenden Interaktionssituationen eingehen (müssen), um Einigung zu erzielen, Interessen durchzusetzen, soziale Beziehungen zu gestalten und Ausgleiche von Erwartungen zu schaffen, unterliegen nicht formellen codes, wohl aber informellen, «ungeschriebenen» Regeln und entsprechenden Verhaltens-Erwartungen der Beteiligten.
Formelle Verhandlungen erfordern ein höheres Mass an Vorbereitung und Fachwissen der involvierten internen oder externen Parteien. Informelle, oft kontextabhängig spontan durch die Interaktionspartner/innen aufgenommene Verhandlungssituationen sind oftmals weniger klar erkennbar oder unterscheidbar; sie tauchen etwa wenige Minuten vor dem Abflug, dem Ende einer Sitzung und in vielen anderen teils höchst unangenehmen Situationen auf. Sie erfordern unmittelbare Reaktionen (oder zumindest glauben wir dies oft) und sind in Bezug auf Umfang, inhaltliche Tiefe und mögliche Auswirkungen fliessend. Informelle (oder Mikro-) Verhandlungen beginnen mit der Frage nach der Verschiebung eines Termins, einer Änderung des Formats einer Lieferung, einer Änderung der Transportmittel oder der Zuweisung von Haushaltsmitteln.
Wenn die erwarteten Folgen der Anfrage unbedeutend sind oder für die / den Interaktionspartner/in/nen keine spürbaren Nachteile mit sich bringen, wird der Verhandlungsprozess durch eine einfache Bestätigung oder eine Ablehnung umgangen, wenn die Antwort nicht verhandelbar ist. In dem Moment, in dem wir uns darauf einlassen, beginnt die Verhandlung. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist, diesen Prozess als das zu erkennen, was er ist: eine Verhandlung. Die Qualität der Kommunikation in Form der kommunikativen Entwicklung und Diskussion von Kompromissen, Optionen und alternativen Verhandlungslösungen steigt, wenn für alle Beteiligten klar ist, ob es sich um eine Mikroverhandlung handelt oder ob ich meine Position, meine Funktion, meine Autorität, meine Ressourcenkontrolle nutze, um Massnahmen einzufordern. (Ich lächle, wenn ich an unzählige Situationen in unserem Familienleben denke, in denen diese Grenze nicht für alle Beteiligten klar war 😊).
Ich habe gelernt, klar zu unterscheiden, ob es sich um einen Auftrag handelt (nicht verhandelbar, d. h. es besteht keine klare gegenseitige Abhängigkeit) und welche Aspekte verhandelbar sind. Eine als Auftrag verpackte Kommunikation kann Zeit sparen, bringt mehr Klarheit und Sicherheit und ist sicherlich oft notwendig. Wenn möglich, ist es jedoch ratsam, die Kommunikation als Bitte zu formulieren, die verhandelbar ist, da dies die beteiligten Parteien ermächtigt, den Aufbau von Vertrauen ermöglicht und fördert, was sich dann im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit und Kommunikation in Form des Aufbaus von Vertrauen und einer gemeinsamen Entwicklung eines Interessenausgleichs möglichst unter Herstellung einer Win-Win-Situation auszahlen kann.
In Getting to Yes (Fisher & Ury, 2012) betonen die Autoren, wie wichtig es ist, die Kommunikation auf die gegenseitigen Interessen und nicht auf die Positionen zu konzentrieren. Einigungen werden häufiger erzielt, wenn sich die Kommunikation darauf konzentriert, "warum ich etwas will oder brauche". Die Formulierung von Wünschen als Interesse verbessert oft die Kommunikation, da sie Transparenz und Klarheit schafft. Außerdem kann es mir als Empfänger der Nachricht helfen, zu erkennen, dass die Interessen des / der Interaktionspartner/s/in/nen mit meinen eigenen Interessen und Bedürfnissen übereinstimmen könnten.
Interessen konzentrieren sich auf das "Warum", Positionen auf das "Was" und "Wie".
Einige Beispiele:
Position:
Beginnen Sie die Stelle einen Monat früher.
Interesse:
Beenden Sie das Projekt pünktlich.
Position:
Ich möchte dieses Treffen um 17 Uhr beenden, auch wenn wir noch nicht fertig sind.
Interesse:
Ich habe noch einen anderen Termin und schlage vor, die Besprechung zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen, damit wir genug Zeit haben, um alle Themen zu besprechen.
Positionen werden in der Kommunikation oft explizit genannt, während die Interessen im Hintergrund bleiben bzw. allenfalls nonverbal und paraverbal ihren Ausdruck finden und durch die Interaktionspartner/in/nen sehr unterschiedlich interpretiert werden können.
Einer der Schlüssel zu erfolgreichen Mikroverhandlungen besteht darin, den Beteiligten mehrere Optionen anzubieten.
Anstatt zu fragen Wäre es in Ordnung, unser Gespräch auf morgen 11 Uhr zu verlegen? Können Sie anbieten:
Wäre es für Sie bequemer, unser Gespräch auf Donnerstag dieser Woche oder lieber in 2 Wochen zu verlegen?
In Mikroverhandlungen erleichtern und unterstützen objektive Kriterien den Kommunikationsprozess. Offene Fragen sind hilfreich, um sich auf die erwarteten Auswirkungen der Vereinbarung zu konzentrieren und darauf, wie die Wirkung der Vereinbarung gemessen werden soll. Ausserdem teilen sie die Verantwortung für die Entwicklung des Kommunikationsprozesses und die erwarteten Ergebnisse.
Mark Moser (m/49) ist in Ozeanien aufgewachsen und lebt mit seiner Familie in Bern und Bangkok.
Seine Kernkompetenzen liegen im Bereich Kulturentwicklung, Interkulturelle Kompetenz, „Leadership and Change“, NPO Management, Konfliktanalyse und -bearbeitung, sowie bei Coachings.
Mark Moser ist als Dozent für Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz und als Berater für Interkulturelle Kommunikation als Inhaber einer Einzelfirma tätig . Mark Moser ist zudem Geschäftsführer von up-international.org, einer Non-Profit-Organisation, welche sich im Bereich Gewaltprävention im In- und Ausland engagiert.
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